Ein Tribunal gegen den Aggressor

Russlands Vetorecht im UN-Sicherheitsrat macht eine internationale Strafverfolgung kompliziert. Dennoch soll der Europarat ein Sondergericht schaffen, um den Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine aufzuarbeiten

In Moskau gedachte Russland an diesem Freitag mit einer waffenstarrenden Militärparade des Endes des Zweiten Weltkriegs, und Wladimir Putin ergriff die Gelegenheit, den Angriff auf die Ukraine mal wieder als eine Art Selbstverteidigung schönzureden. Im ukrainischen Lwiw trafen sich derweil die EU-Außenminister, und sie halten dieses Mal für Moskau eine Antwort parat, die über bloße Rhetorik hinausgehen soll.

„Wir bekräftigen unser anhaltendes Engagement für den Prozess der Etablierung eines Sondertribunals“, erklärten die Außenminister in einem Statement, das auch Kaja Kallas unterzeichnet hatte, Vizepräsidentin der EU-Kommission. Das Tribunal solle möglichst bald arbeitsfähig werden. Das war, anders ausgedrückt, der offizielle Auftrag, ein Gericht zu schaffen, um die Verantwortlichen des russischen Angriffskriegs zur Rechenschaft zu ziehen.

Dass dieses Sondertribunal nun politisch auf den Weg gebracht wurde, darf man als großen Erfolg der Ukraine bezeichnen. Nach dem russischen Überfall vom 24. Februar 2022 drang das Land darauf, einen strafrechtlichen Mechanismus gegen die Aggressoren aus Moskau zu schaffen. Denn obwohl das Unrecht des russischen Angriffs mit Händen zu greifen war, fand sich im Völkerrecht kein wirklicher Ansatzpunkt, um eine entsprechende Anklage auf den Weg zu bringen.

Es gilt, die Strafbarkeitslücke zu schließen

Die natürliche Adresse wäre eigentlich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Das Gericht, das etwa Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt, ist in der Tat bereits aktiv geworden und hat sogar einen Haftbefehl gegen Putin erlassen. Allerdings sind seine Zuständigkeiten in einem zentralen Punkt empfindlich beschränkt: Das Verbrechen der Aggression – also den eigentlichen Angriffskrieg – könnte der Gerichtshof nur mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrats verfolgen. Die aber ist nicht zu bekommen, Russland hat dort ein Vetorecht.

Es bestand also, mit anderen Worten, eine Strafbarkeitslücke, die es zu schließen galt. Eine sogenannte „Core Group“ von etwa 40 Staaten trieb daher die Errichtung eines Sondertribunals voran. Zunächst gab es Überlegungen, es ebenfalls bei den Vereinten Nationen anzusiedeln. Aber als sich dies nicht realisieren ließ, besann man sich auf ein Staatenbündnis, das immer ein wenig im Schatten der Europäischen Union steht. Der Europarat, ein Bündnis aus 46 Staaten, sollte die zentrale Institution zur Errichtung des Gerichtshofs werden.

Der Europarat galt vor allem deshalb als geeignet, weil seine wichtigste Institution der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ist. Also ein international agierendes Gericht mit einem großen Erfahrungsschatz bei der Verteidigung völkerrechtlicher Regeln. Übrigens auch gegenüber Russland, das bis zu seinem Ausschluss aus dem Europarat im März 2022 sozusagen Dauerkunde in Straßburg war.

Das Gericht wäre halb ukrainisch, halb international

Das neue Sondertribunal soll durch einen bilateralen Vertrag zwischen der Ukraine und dem Europarat errichtet werden. Offizieller Startschuss soll das Außenministertreffen des Europarats am 14. Mai in Luxemburg sein. Das Gericht wäre damit halb ukrainisch, halb international – verwurzelt in der nationalen Gerichtsbarkeit, aber zugleich völkerrechtlich umhegt. Der Sitz soll in Den Haag sein, was allerdings noch nicht offiziell ist, zuerst muss das niederländische Kabinett zustimmen.

Was aber wird dieses Gericht ausrichten können, wenn es einmal etabliert sein wird, was frühestens im kommenden Jahr der Fall sein dürfte? Die Antwort nimmt sich auf den ersten Blick ein wenig enttäuschend aus: Haftbefehle gegen das Führungstrio aus Präsident, Außenminister und Premierminister sind nicht möglich, dasselbe gilt für einen Prozess in Abwesenheit. Wladimir Putin, Sergej Lawrow und Michail Mischustin genießen persönliche Immunität – solange sie im Amt sind.

Allerdings sind dem Sondertribunal damit nicht die Hände gebunden. Die Ankläger dürfen ermitteln, dürfen belastendes Material sammeln und können sogar eine Anklageschrift vorbereiten; vielleicht für die Schublade, vielleicht aber auch für den Tag X, an dem sich die Dinge gewendet haben. Vermutlich können die Ankläger über ihre Erkenntnisse auch öffentlich reden, was ein Faktor für die internationale Debatte sein könnte.

Noch wichtiger: Andere Verantwortliche für den russischen Angriffskrieg können sofort vom Sondertribunal belangt werden, etwa der Verteidigungsminister und weiteres Führungspersonal. Denn allein das Führungstrio ist gegen Strafverfolgung gewappnet. Eine sogenannte „funktionale Immunität“ zum Schutz der Staatsorgane der Russischen Föderation gibt es dagegen nicht, hier sind dem neuen Gericht zumindest rechtlich nicht die Hände gebunden. In der Ukraine geht man von einer Führungsriege von etwa 20 Personen aus, gegen die das Gericht Anklagen formulieren und Urteile sprechen könnte, auch in Abwesenheit.

Der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset, nannte den politischen Rückhalt für das Sondertribunal am Freitag eine „Demonstration unserer Einigkeit“, einen gerechten Frieden in der Ukraine zu sichern. Dem politischen Willen, sagte er, müssten nun Taten folgen, vor allem zur Finanzierung des neuen Gerichtshofs. Denn Gerechtigkeit benötige auch Ressourcen.